Maria Kliegel – über die Künstlerin 

Für den Quartsprung vom Pianissimo-Fis bis zum Fortissimo-H in den letzten Takten des Dvorak-Cellokonzerts braucht man einen kräftigen rechten Arm - die Cellistin und Tennisspielerin Maria Kliegel hat ihn! Dass sie beides unbeirrt spielt, Cello international und Tennis regional, ist für sie typisch; denn für beides gilt dasselbe: wer an der Spitze bleiben will, muss ebenso intensiv und konsequent trainieren, sich fithalten und sich dazu noch stärker motivieren wie der, der dahin noch unterwegs ist. Sie weiß auch: in jeder disziplinierten Arbeit - im Sport wie im Cellospiel - liegt ein Quell wahrer Freude und Lebenskraft verborgen. Und es gelingt ihr immer wieder: „La Cellissima“ - der Name verselbständigte sich nach einer einmal so bezeichneten CD - aktiviert diese latenten Kräfte und verkörpert eine seltene Mischung von natürlicher Spielfreude, brillanter Technik und beseeltem Ausdruck. Ihrer Bühnenpräsenz und ihrer charismatischen Ausstrahlung kann sich niemand entziehen.

Im hessischen Dillenburg geboren, lernte sie in einer kinderreichen Familie das Cellospiel schon früh, erst in ihrer Heimatstadt, dann bei Professor A. Molzahn in Frankfurt und gewann 1968 und 1970 auch gleich auf Bundesebene erste Preise bei „Jugend musiziert“.

Nach dem Abitur stellte das Schicksal die Weichen: Ein kunstsinniger Frankfurter Mäzen ermöglichte ihr 1971 die Teilnahme an einem Meisterkurs bei Janos Starker in Kanada. Der erkannte gleich das noch verborgene Talent der gerade 19jährigen Cellistin und lud sie nach dem Kurs sofort nach Bloomington/USA an die Indiana University ein, um dort in seiner Meisterklasse weiterzustudieren. Maria Kliegel erkannte schnell die große Chance ihres Lebens, sie nahm das Angebot an und es folgten auch bald 1. Preise beim Amerikanischen Hochschulwettbewerb in Chicago und 1975 beim Ersten Deutschen Musikwettbewerb in Bonn.

Bei Starker erlernte sie im Begreifen sowohl spieltechnischer und physiologischer Bewegungsabläufe als auch wohldurchdachter Arbeitsprozesse - vom wortkargen strengen Meister klug erläutert - eine frappierende, von analytischem Intellekt und von Disziplin bestimmte Cellotechnik, dazu aber auch die Tugend zu interpretativer Subtilität. Maria Kliegel spricht begeistert vom großen Erkenntnisgewinn aus dieser Zeit mit Janos Starker, in der sie ein unverkrampftes, gesundes Verhältnis zur Musik, zu sich selbst mit Körper und Seele, überhaupt zum Leben fand. So erhielt sie sich ihre schon immer hinreißende Natürlichkeit und konnte sie menschlich und künstlerisch stets überzeugend spürbar und hörbar machen.

Als sie 1977 Gelegenheit bekam, in Basel mit Mstislav Rostropowitsch ebenfalls in einem Meisterkurs zusammenzutreffen, eröffnete sich ihr eine grenzüberschreitende neue Perspektive jenseits kultivierter Instrumentalkunst und künstlerischer Integrität: Er lehrte sie begreifen, dass sich eine Persönlichkeit nur dann überzeugend mitteilen kann, wenn sie diese „Hohe Kunst“ nicht sich selbst überlässt, sondern sie - durch eigenes Herzblut und bedingungslose Leidenschaft zum Leben erweckt - als Kommunikator zwischen Komponist und Hörer sinnlich erfahrbar macht.

Aus der Verwirklichung dieser neuen Erkenntnisse reifte sie zu einer faszinierenden Musikerin, die ihre Entwicklung mit dem Erlangen des 1. Grand Prix im „Concours Rostropowitsch Paris“ 1981 eindrucksvoll unter Beweis stellen konnte. Der Dirigent Rostropowitsch nahm seine 1. Preisträgerin auch gleich als Solistin mit auf Tourneen durch Frankreich und nach Washington/DC: ihre internationale Karriere begann.

            Zu den heimlichen ... Stars gehört die Cellistin Maria Kliegel. Sie verfügt über alle
            notwendigen Eigenschaften: traumhaft leichte, aber nicht perfektionistisch erstarrte
            Technik, hinreißende Intensität, glamouröse und trotzdem gewinnend lockere Ausstrahlung...
            So machte sie mit Piazzollas „La Grand Tango“ Furore, mit sinnlichen Schluchzern und
            spürbaren Rhythmen auf der Tangowelle surfend...
                                                                                                                        (DER TAGESSPIEGEL, Berlin)

Diese aus charakterlich völlig gegensätzlichen Quellen gespeiste zweifache musikalische und menschliche Prägung machte aus Maria Kliegel die technisch perfekte Cellistin und die großartige Künstlerpersönlichkeit, als die sie die ganze Welt inzwischen aus LiveAuftritten und auf Tonträgern kennt und bewundert.

So gehört sie inzwischen zu den vielseitigsten und besten Instrumentalisten unserer Zeit. Funk und Fernsehen waren längst auf sie aufmerksam geworden. Der fulminante Start in die Tonträger-Branche gelang ihr 1992 mit der Aufnahme des ersten Cellokonzerts von Alfred Schnittke, die der Komponist selbst zur Referenzinterpretation seines Werks erklärte und die auch gleich vom Magazin FONOFORUM zur „CD des Monats“ ausgewählt wurde.

             Bekenntnismusik, überwältigend dargeboten: klangrauschend, glühend intensiv,
             hochdifferenziert. ... Maria Kliegel leistet jeweils totale Werkidentifikation und
            Technik, hinreißende Intensität, glamouröse und trotzdem gewinnend lockere Ausstrahlung...
             So machte sie mit Piazzollas „La Grand Tango“ Furore, mit sinnlichen Schluchzern und
             profiliert sich als deutsche Cellistin von Weltklasseformat...
                                                                                                                        (CD-KLASSIKFÜHRER)

Seither hat sie beim Label Naxos auf schon weit mehr als 40 CDs das gesamte Standardwerk der Celloliteratur eingespielt. Das reicht von Bachs Solosuiten und Dvoraks Cellokonzert – beides kurz nach ihrem Erscheinen gleich mit internationalen Preisen ausgezeichnet – über alle anderen Schlachtrösser der Klassik, Romantik und Moderne bis zur Gegenwart. Daneben hat sie aber auch viel Unbekanntes, Amüsantes, Wertvolles und Hörenswertes für ihr Instrument ausgegraben und zu Unrecht vernachlässigte Kompositionen etwa von Danzi, Popper, Cassado, von Dohnányi, Saint-Saëns, Kodály oder Fauré wieder zum Leben erweckt. Weltweite Anerkennung bei Publikum und Fachwelt gleichermaßen wird ihr seitdem zuteil wegen ihrer überzeugenden und gültigen Interpretationen und nicht etwa wegen geschickt lancierter Künstlerpromotion des Plattenlabels.

Weltweit rund eine Million verkaufte Silberscheiben zeugen davon: „La Cellissima“ ist international die Nummer eins im Verkauf des Cellorepertoires auf CD. Gefördert wird dieser Verkaufserfolg sicherlich auch dadurch, dass Maria Kliegel in der internationalen Fachpresse immer wieder Auszeichnungen erhält, so für ihre Schumann- und Brahms-Aufnahmen den „Editor’s Choice“ im britischen GRAMOPHONE oder für die Solosuiten von Bach den „SuperSonic Award“ im Luxemburger PIZZICATO und die „CD des Monats“ im Magazin STEREO oder dadurch, dass das Magazin SCALA die Aufnahme der Cellokonzerte von Saint-Saëns zu einer der besten 50 Solokonzertaufnahmen des 20. Jahrhunderts erwählte. Für die Aufnahme aller Cellowerke Kodálys und für die Bach’schen Solosuiten gab es „Grammy“-Nominierungen.

             Kliegel gelingt ein beredter Spielfluss, der es nicht nötig hat, die Rhetorik-Klischees
             mancher Alte-Musik-Spezialisten zu bemühen. So hat man nach dem knapp
             zweieinhalbstündigen Durchgang durch den gesamten Bach’schen Kosmos das
             Gefühl, nicht nur einen Interpreten, sondern auch einen Menschen ein wenig
             kennengelernt zu haben...
                                                                                                                        (KLASSIK-HEUTE)

             Kliegel has all the virtues: beautiful “singing” tone. perfect intonation, marvellous
             style and exquisite taste. Kliegel’s feeling for rubato sets a stunning standard of
             excellence and her playing is right up there at the level of today’s finest ...
                                                                                                                        (IN TUNE, Japan)

Die Musik der Gegenwart beansprucht einen großen Teil ihres Schaffens: Ihr gewidmete Kompositionen etwa von Harald Banter oder Jörg Demus hat sie auf dem Podium gespielt und im Tonstudio aufgenommen. So schrieb W. Kaiser-Lindemann für sie auf ihre Bitte hin eine „Hommage à Nelson M.“ für Cello und Schlagzeug. Die Idee zu diesem Werk entsprang Maria Kliegels glühender Verehrung für den südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela, diesem lebenden Vorbild eines unbeirrt an seine Bestimmung glaubenden Streiters für wahre Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Er hörte von der Uraufführung des Werks in Düsseldorf und von der südafrikanischen Erstaufführung am Heritage Day in Kapstadt und lud die Künstlerin wenig später – ganz gegen seine sonstigen Gepflogenheiten – im November 1997 zu einem Privatkonzert in seine Residenz nach Kapstadt ein. Diese aus musikalischer Kreativität ermöglichte Begegnung, ein besonderer und unvergessener Höhepunkt in Maria Kliegels Leben, bestärkte sie darin, in ihrem Instrument stets ein Interaktionsmittel zu sehen und mit ihrer Musik Innenwelten von Gefühl und Empfindung anzurühren, in denen Worte versagen. Deshalb gibt sie bis heute nach dieser aufwühlenden Begegnung zahlreiche Benefizkonzerte für den Nelson Mandela Children’s Fund, aber auch für zahlreiche Hilfsprojekte in Südamerika oder für die Kinder-Krebshilfe in Deutschland. Als Anerkennung dieser Bemühungen, aber auch für ihren unermüdlichen Einsatz in der Jugend- und Nachwuchsarbeit wurde „La Cellissima“ 1999 der Verdienstorden des Landes NRW verliehen.

Von 1986 bis 2023 war die „Grande Dame des Violoncellospiels“ - so die WELT AM SONNTAG - Professorin an der Kölner Musikhochschule (HfMT) und gab dort und in internationalen Meisterkursen ihre instrumentaltechnischen, musikalischen und menschlichen Erfahrungen und Kenntnisse weiter. Zuvor unterrichtete sie 9 Jahre lang als Professorin an der Folkwang Universität der Künste (UdK) in Essen.

Was alles die Antipoden Starker und Rostropowitsch in ihrer Gegensätzlichkeit ihr früher vermittelten, verschmilzt in ihrer eigenen Lehrtätigkeit zu einer weiterführenden völlig neuen kreativen Einheit. Ihr großes Ansehen im Kollegenkreis führt dazu, dass sie auch ein gefragtes Jurymitglied für internationale Wettbewerbe ist, etwa beim ARD Wettbewerb München oder bei der Unisa Competition Pretoria, der Leonard Rose Competition Washington/DC, dem Paulo Wettbewerb Helsinki oder dem Casals Wettbewerb Kronberg.

Schon seit jeher bedeutet für „La Cellissima“ kammermusikalisches Zusammenwirken eine Erweiterung und Bereicherung ihrer solistischen Laufbahn. „Die Partitur im Visier, sich immer wieder intensiv mit den verschiedensten Partnern und Ideen auseinandersetzen zu müssen und trotzdem einen gemeinsamen Duktus zu finden, um dem Charakter und der Aussage der Musik miteinander auf die Spur zu kommen, ist in jeder Phase einer solchen Beschäftigung eine prickelnde und inspirierende Arbeit. Menschliche wie musikalische Höhen und Tiefen suchen dabei ständig und immer von neuem ihre Balance“, so Maria Kliegel.

Aber es ist ihr zu wenig, nur hin und wieder in diversen Ad-hoc-Ensembles auf Festivals zu spielen, seien sie auch noch so hochkarätig wie etwa Lockenhaus oder das RisørFestival in Norwegen mit Leif Ove Andsnes und dem Artemis-Quartett. 2001 gründete sie deshalb zusammen mit Ida Bieler (Violine) und Nina Tichman (Klavier) das XYRION TRIO. Von Publikum und Presse enthusiastisch gefeiert – sogar verglichen mit dem Beaux Arts Trio oder dem Trio Kempf/Szeryng/Fournier –, beweist das XYRION TRIO beim Label Naxos seinen hohen Rang mit der Gesamtaufnahme aller Klaviertrio-Kompositionen Beethovens. Von 2007 an wurde ihm die künstlerische Leitung des Festivals „Andernacher Musiktage“ auf Burg Namedy anvertraut.

In ihrem 2006 veröffentlichten multimedialen Buch- und DVD-Projekt „Schott Master Class Cello: Mit Technik und Fantasie zum künstlerischen Ausdruck“ über Cellotechnik und „berühmt - berüchtigte“ Stellen (gespielt und analysiert) geht sie ganz neue Wege und erhielt im Jahre 2007 renommierte Preise dafür: in Düsseldorf den Sonderpreis der Digita (beste deutsche Bildungssoftware) und in Berlin den europäischen Medienpreis Comenius-EduMedia-Siegel. Die englische Version „Cello-Master Class: Using Technique and Imagination to achieve Artistic Expression" ist seit Dezember 2010 im Vertrieb des Labels Naxos und weltweit erhältlich.

Nach fast drei Jahrzehnten fulminanter und von der Kritik hochgelobter Produktionen für das Label Naxos mit über 40 Solo-CDs und 2 Grammy-Nominierungen erschien im Frühjahr 2019 Maria Kliegels neueste Produktion beim Label GENUIN. Mit dieser Produktion, dem Album „Voyages Sonores“, geht Maria Kliegel auf eine ganz besondere Klangreise – begleitet vom bekannten Pianisten Oliver Triendl – mit Werken von G. Connesson, C. Debussy, F. Poulenc, M. de Falla, E. Granados und G. Cassado. Glänzende CD-Rezensionen dieser Aufnahme wurden in namhaften Magazinen wie z. B. in „HIFI & Records“, „Das Orchester“, „Pizzicato“ sowie im Deutschlandfunk, in BR-Klassik und in überregionaler Tagespresse publiziert.

Darüber hinaus ist Maria Kliegels Einspielung „Voyages Sonores“ für den OPUS KLASSIK-Preis sowie für den International Classical Music Award 2020 (ICMA) in 2019 nominiert worden.

Maria Kliegel gehörte in 2019 zum Dozenten-Team des neu gegründeten „Institute of Musical Excellence“ in Wroclaw (Breslau), Polen.

Desweiteren ist Maria Kliegel ab November 2021 als Professorin an der „University of Music“ in Brescia/Italien tätig.

Ihren Wirkungskreis als Pädagogin erweitert Maria Kliegel in Essen eindrucksvoll mit dem von ihr gegründeten internationalen „Cello-Forum La Cellissima“ ab September 2021. Dieses Forum beinhaltet internationale Meisterkurse an mehreren Terminen im Jahr.

Sie spielt ein Cello von Carlo Tononi, Venedig, ca. 1730.

Dr. Diether Steppuhn

Stand: Herbst 2023